Andacht zu
Neujahr 2021
Liebe Gemeinde am ersten Tag des neuen Jahres,
wenn wir mit den ersten Sekunden des neuen Jahres die außergewöhnlichen Umstände des Jahres 2020 hinter uns lassen könnten wie das andere Ufer jenseits der Brücke, über die wir mit dem Jahreswechsel gegangen sind, dann würden wir uns zur gewohnten Zeit an Neujahrsabend um 17 Uhr zum ersten Gottesdienst im Jahr 2021 versammeln (in diesem Jahr auch ohne Lockdown leider nicht in der Johanneskirche, da wir durch den Defekt der Heizung derzeit hauptsächlich im Gemeindehaus Hohenberg unsere Gottesdienste feiern.).
Doch das Bild, das sich uns vor Augen malt - wenn wir in Gedanken zum Neujahrsgottesdienst in die Kirche gehen oder uns an vergangene Neujahrsgottesdienste erinnern - dürfte in etwa dem gleichen, das unsere schöne Johanneskirche im derzeitigen weihnachtlichen Schmuckkleid zeigt, und das wir sehen würden, wenn wir die Kirche beträten ...
Zur Begrüßung und den Neujahrswünschen gehörte in diesem Gottesdienst traditionell auch das Austeilen eines Lesezeichens mit einem Bildmotiv der neuen Jahreslosung: Auf dem Weg durch das Jahr 2021 begleiten uns Worte aus dem Lukasevangelium, Kapitel 6, Vers 36:
Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!
Was auf den ersten Blick und aufs erste Hören – gerade zu Beginn des neuen Jahres - wie ein guter Vorsatz für 2021 erscheint, ist jedoch etwas ganz anderes: Denn es geht nicht um ein Ziel, das Jesus uns mit diesen Worten für das Jahr 2021 setzen möchte. Es geht vielmehr um eine Vision - aber nicht im dem Sinne, wie es der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt in seiner ihm typischen Art einmal sagte: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“.
Was Jesus uns mit seinen Worten ans Herz legt, ist ein Zukunftsentwurf - das Bild und die Vorstellung von einer Zukunft dieser Welt, und vor allem der Menschen, die sich gerade nicht aus dem Bestehenden und Vorfindlichen ergeben, sondern eine ganz eigene, neue Setzung bedeuten. Denn es geht um Barmherzigkeit und damit um den vielleicht höchsten christlichen Wert. Und dieser ist keiner, den man so einfach erlernen und seinem Verhalten zugrunde legen kann. Das wird bereits deutlich durch den Zusammenhang, in dem diese Worte aus der „Feldrede“ Jesu - dem lukanischen Pendant zur Bergpredigt bei Matthäus -stehen. Denn in den Worten Jesu geht es um unsere Haltung unseren Mitmenschen gegenüber, um Richten und Urteilen, Verdammen und Vergeben - und dabei um den berühmten „Splitter“, den wir in des Bruders Auge sehen, und dabei den Balken im eigenen Auge nicht wahrnehmen.
Mit der Barmherzigkeit legt Jesus uns einen zweifachen Perspektivwechsel nahe: Zum einen in der Weise, dass wir unsere Nächsten mit den Augen des Herzens betrachten lernen und nicht allein mit den Augen von Recht, Gesetz und Ordnung. Und zum anderen in der Weise, dass wir bei der Frage der Barmherzigkeit immer mit im Blick haben, dass wir selbst der Barmherzigkeit bedürfen. Auch wir selbst hängen davon ab, dass andere mit uns barmherzig sind, weil kein Mensch fehlerfrei ist oder schuldlos.
Das heißt nun aber nicht, dass Unrecht, Verfehlung und Schuld nicht gesehen und auch beim Namen genannt werden dürfen. Denn es ist um der Opfer von Ungerechtigkeit und Gewalt willen zweifellos geboten, dem ihnen widerfahrenen Leid zu widersprechen und ihm auch Einhalt zu gebieten.
Diesen klaren Blick mit den Augen von Recht und Gesetz bedarf es zwingend und im wahrsten Sinne „Not-wendig“, um die Not von erlittenem Unrecht und erlittener Gewalt zu wenden, damit sich eine neue Zukunft für Opfer - und auch Täter eröffnen kann. Wie dies konkret aussehen kann, zeigt zum Beispiel das Modell des „Täter-Opfer-Ausgleichs“: Hier steht die Kommunikation zwischen den beteiligten Parteien im Vordergrund, im Dienst einer konstruktiven Konfliktbewältigung, mit dem Ziel, die Beteiligten zu einer dauerhaften und Frieden stiftenden Lösung des Konfliktes zu führen. Ob ein Opfer dabei vom Verdammen des Täters zum Vergeben der Tat gelangt, bleibt sicher dem einzelnen Konfliktfall vorbehalten, aber es wird zumindest dabei auch für den Täter möglich, dass er nicht ein für allemal auf seine Tat fixiert wird. Denn wir Menschen sind - vor allem in den Augen Gottes – mehr als die Summe unserer Taten und Untaten. Das zeigt uns in besonderer Weise die Geschichte vom barmherzigen Vater und seinem verlorenen Sohn, die auch beim Evangelisten Lukas überliefert ist: Wenn der Vater seinen Sohn auf dessen Vergangenheit festgenagelt hätte, wäre für diesen keine Zukunft mehr möglich gewesen.
„Seid barmherzig!“ heißt deshalb: Gebt einander Zukunft! Lasst nicht zu, dass das Morgen vom Gestern abhängt, wendet Euren Blick von dem, was war, hin zu dem, was neu möglich werden kann!
Im Motiv zur Jahreslosung von Angelika Litzkendorf wird dies ins Bild gesetzt: Der Weg und die Zukunft der Barmherzigkeit beginnen am Kreuz. Dort ist die Quelle der Barmherzigkeit: Licht und Leben - sichtbar in den beiden Farben des Kreuzes, golden
und blau. Licht und Wasser strömen vom Kreuz aus hinab in eine Schale, die - ganz davon erfüllt - ihren Überfluss weitergibt an eine zweite Schale, die ebenfalls überfließt und weitergibt, und weiter, und weiter… Ein wunderschönes Bild für Barmherzigkeit, die uns die Worte der Jahreslosung ans Herz legen:
Unser Herz Gott öffnen und hinhalten wie eine Schale, damit es sich füllen kann mit dem Licht und dem lebendigen Wasser Gottes. Wenn das eigene Herz von diesem Licht und Leben erfüllt ist und überfließt, kann es von seinem Überfluss weitergeben und zugleich zurückverweisen auf die Quelle, aus der es selbst immer wieder neu schöpft – ganz so, wie es Bernhard von Clairvaux (1090-1153) einmal gesagt hat: